Unter dem Hashtag #Frauenticket teilen tausende Frauen ihre Erfahrungen, bei Arztbesuchen nicht ernst genommen worden zu sein.
Monika Pietrzak-Franger von der Universität Wien erklärt im ABW-Interview, warum Betroffene chronischer Erkrankungen häufig mehrfach stigmatisiert werden.
Wie erklären Sie sich, dass diese Problematik so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist?
Das Problem von #Frauenticket ist nicht nur ein medizinisches, sondern ein kulturelles. Es geht unter anderem um Deutungshoheit: Wer wird als glaubwürdig angesehen? Wessen Schmerzen gelten als real? Erst wenn wir die tief verankerten Bilder von Geschlecht, Körper und Krankheit hinterfragen, kann sich die Situation grundlegend ändern.
Einerseits, ist dafür die lange kulturelle Tradition verantwortlich, die Körper, Schmerz und Geschlecht auf spezifische Weise deutet. Schon in der Antike wurden Frauenkörper als rätselhaft oder unzuverlässig betrachtet. Im 19. Jahrhundert wurde „Hysterie“ als Sammelbegriff für alle möglichen Beschwerden von Frauen genutzt – von Schmerzen über psychische Erkrankungen bis hin zu Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Rollen. Dieses Bild der „überempfindlichen“ oder „emotionalen“ Frau wirkt bis heute nach: Frauen werden häufiger als ängstlich oder stressgeplagt wahrgenommen, während Männer als „hart im Nehmen“ gelten.
Andererseits basiert moderne Medizin historisch auf männlichen Körpern als Standard. Viele medizinische Studien wurden und werden vorrangig an Männern durchgeführt. Das führt dazu, dass Symptome, die sich bei Frauen anders äußern – etwa Herzinfarkte –, nicht erkannt oder falsch interpretiert werden. Auch die Schmerzbewertung ist davon betroffen: Studien zeigen, dass Frauen in Notaufnahmen seltener Schmerzmittel erhalten als Männer mit vergleichbaren Beschwerden. Unsere Kultur schreibt Frauen oft die Rolle der „Versorgenden“ zu – sie kümmern sich um andere, sind belastbar, aber sollen gleichzeitig nicht „zu viel“ Aufmerksamkeit für ihre eigenen Bedürfnisse einfordern. Dieses Bild beeinflusst unbewusst auch medizinisches Personal: Wenn Frauen über Schmerzen klagen, werden sie eher als übertreibend oder psychosomatisch leidend wahrgenommen.
„Schon in der Antike wurden Frauenkörper als rätselhaft oder unzuverlässig betrachtet.“
Sie sprechen von der Stigmatisierung durch Narrativen wie „Krankheit als Eigenverantwortung“ und „Frauenleiden als Hysterie“. Welche gesellschaftlichen Strukturen tragen besonders zu dieser Stigmatisierung bei?
In neoliberalen Gesellschaften wird Gesundheit oft als individuelle Verantwortung betrachtet. Wer krank ist, hat angeblich nicht genug auf sich geachtet – ein Narrativ, das besonders Frauen belastet. Chronische Erkrankungen oder psychische Leiden werden so schnell als persönliches Versagen gewertet, statt als Ergebnis komplexer sozialer, wirtschaftlicher und biologischer Faktoren.
Gleichzeitig trägt die patriarchale Prägung der Medizin dazu bei, dass Frauenleiden oft verharmlost oder fehlgedeutet werden. Auch kulturell fehlt es an kritischer Reflexion: Medien, Werbung und sogar die Sprache selbst verstärken oft unbewusst diese Narrative. Solche gesellschaftlichen Strukturen machen es schwer, offen über Gesundheit und Krankheit zu sprechen und sorgen dafür, dass viele Betroffene lange kämpfen müssen, um ernst genommen zu werden. Eine Veränderung braucht ein Umdenken in Medizin, Politik und öffentlichem Diskurs.
Warum ist es gerade bei chronischen Erkrankungen wie Long Covid oder ME/CFS so schwierig, dass Betroffene ernst genommen werden?
Unsere Gesellschaft bevorzugt Krankheiten, die sichtbar, messbar und heilbar sind. Wer einen gebrochenen Arm hat oder an Krebs leidet, wird sofort als krank anerkannt. Doch bei chronischen Erkrankungen, die oft keine eindeutigen Biomarker haben und individuell sehr unterschiedlich verlaufen, fehlt diese klare Sichtbarkeit. Besonders problematisch ist, dass viele dieser Krankheiten die Leistungsfähigkeit einschränken. Unsere Gesellschaft definiert Menschen stark über ihre Produktivität – wer dauerhaft müde, erschöpft oder arbeitsunfähig ist, wird schnell als „faul“ oder „hypochondrisch“ abgestempelt.
Dazu kommt, dass Medizin und Forschung lange wenig Interesse an diesen Erkrankungen hatten. Viele Ärztinnen und Ärzte sind unzureichend geschult, und Betroffene müssen oft jahrelang um Anerkennung kämpfen. Um das zu ändern, braucht es nicht nur medizinische Fortschritte, sondern auch ein kulturelles Umdenken: Krankheit ist nicht nur das, was sich einfach messen lässt – sondern auch das, was Menschen in ihrem Alltag einschränkt.
„In neoliberalen Gesellschaften wird Gesundheit oft als individuelle Verantwortung betrachtet. Wer krank ist, hat angeblich nicht genug auf sich geachtet.“
Sie erwähnen, dass die Medizin historisch von Männern und für Männer gemacht wurde. Was sind die größten Fortschritte, die geschlechterspezifische Medizin in den letzten Jahren erreicht hat und wo gibt es noch dringenden Handlungsbedarf?
Ein großer Fortschritt ist das wachsende Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin und ein öffentlicher Dialog darüber. Dennoch gibt es noch großen Handlungsbedarf. Viele Krankheitsbilder, die überwiegend Frauen betreffen – wie Endometriose, Long Covid oder ME/CFS – sind weiterhin unterforscht und werden oft als psychosomatisch abgetan. Auch die medizinische Ausbildung muss sich ändern: Geschlechtssensible Medizin sollte fester Bestandteil des Studiums sein. Fortschritt bedeutet nicht nur bessere Technik, sondern auch ein Umdenken in der Art, wie wir Krankheit wahrnehmen – und wer als „normale“ Patient*in gilt.
Sie betonen, dass Krankheiten nicht nur biologisch, sondern auch sozial und kulturell geprägt sind. Wie können wir als Gesellschaft neue Narrative entwickeln, die mehr Solidarität und Verständnis fördern?
Um neue Narrative zu schaffen, die mehr Solidarität und Verständnis fördern, müssen wir grundlegend überdenken, was Krankheit und Gesundheit bedeuten. Statt Gesundheit als individuelle Leistung zu sehen, sollten wir sie als kollektive Verantwortung begreifen – geprägt von sozialen, wirtschaftlichen und medizinischen Bedingungen.
Ein wichtiger Schritt ist auch, anderen wirklich zuzuhören. Wenn Betroffene über ihre Erfahrungen sprechen, sollten wir sie ernst nehmen, statt vorschnell zu urteilen. Ihnen eine Stimme zu geben – sei es in den Medien, in der Medizin oder im persönlichen Umfeld – hilft, eingefahrene Vorstellungen zu hinterfragen. Genauso entscheidend ist, wie wir selbst über Gesundheit und Krankheit sprechen. Wer differenziert und ohne Schuldzuweisungen darüber spricht, trägt dazu bei, Stereotype aufzubrechen. Je mehr wir uns bewusst machen, wie tief gesellschaftliche Annahmen unser Denken prägen, desto eher können wir neue Erzählungen etablieren, die Mitgefühl und Verständnis in den Mittelpunkt stellen.
„Viele Krankheitsbilder, die überwiegend Frauen, sind weiterhin unterforscht und werden oft als psychosomatisch abgetan.“
Was möchten Sie Studierenden vermitteln, wenn es um die Reflexion von bestehenden Erklärungsmodellen und Machtstrukturen geht?
Ein zentrales Anliegen in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Lehre ist es, Studierende für die Macht von Erzählungen und (visuellen) Darstellungen zu sensibilisieren. Unsere Welt ist nicht „natürlich“ gegeben, sondern das Ergebnis historischer Entwicklungen, sozialer Konstruktionen und politischer Interessen.
Wer die bestehenden Erklärungsmodelle und Machtstrukturen nicht hinterfragt, läuft Gefahr, sie unbewusst zu reproduzieren. Gerade in der Medizin, aber auch in anderen Wissenschaften, wurden lange Zeit bestimmte Perspektiven als allgemeingültig betrachtet. Doch wer definiert, was als „objektives“ Wissen gilt? Welche Stimmen wurden überhört? Welche Alternativen gibt es? Diese Fragen sind essenziell, um neue, gerechtere Erkenntnisse zu entwickeln. Studierende sollen lernen, kritisch zu lesen, Fragen zu stellen und scheinbar Selbstverständliches zu dekonstruieren. Sie sollen erkennen, dass Wissen immer in einem gesellschaftlichen Kontext entsteht und nie neutral ist. Doch Reflexion allein reicht nicht – sie sollten sich auch fragen: Wie kann ich dazu beitragen, bestehende Ungleichheiten zu verändern? Denn Wissenschaft ist nicht nur ein Werkzeug zur Analyse der Welt – sie kann auch ein Instrument für sozialen Wandel sein. Täte das jede/r von uns, würden wir einiges bewegen können.
Zur Person
Monika Pietrzak-Franger ist Professorin für Kultur- und Literaturwissenschaft, Direktorin des Instituts für Anglistik und Amerikanistik und Co-Leiterin der Doctoral School of Philological and Cultural Studies (PhilKult) an der Universität Wien. Sie ist eine international ausgewiesene Expertin für Medical/Health Humanities.
Der Schwerpunkt ihrer derzeitigen Forschungsarbeit liegt im Bereich medialer Gesundheitspraktiken, Krankheitsnarrative und -darstellungen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher (Cambridge University Press, Oxford University Press etc.) und Artikel in wissenschaftlichen Fachjournalen (inkl. British Medical Journal). Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit ist Monika Pietrzak-Franger in diversen internationalen Organisationen tätig. Sie ist Teil des „Gesundheit und Gesellschaft“-Forschungsverbundes an der Uni Wien. Im Frühjahr erscheint ihr neues Buch „Scheinbar genesen: Leben mit Long Covid und das Recht auf Hoffnung“.
Foto: Barbara Mair