Die VIG-Vorständin verkörpert eine neue Art von Führung – geprägt von Haltung statt Macht. Verlegerin Barbara Mucha sprach mit ihr im Wiener Ringturm.
Im zarten Alter von 14 Jahren weiß Liane Hirner genau, was sie will. Sie verlässt ihr Elternhaus, nicht aus Rebellion, sondern aus dem Wunsch nach Selbstständigkeit. Sie besucht eine Schule mit Internat und ist nur an den Wochenenden zu Hause. „Freiwillig“, betont sie. „Ich war gern zu Hause, aber ich wollte mein eigenes Leben leben.“ Es ist der erste Beweis für eine Stärke, die sich durch ihr ganzes bisheriges Leben zieht: Selbstbestimmtheit.
Früh lernt die heutige Top-Managerin, Verantwortung zu übernehmen – für sich und ihre Entscheidungen. Nach dem Betriebswirtschaftsstudium in Graz zieht es sie ins Ausland, was in den 1980er-Jahren ungewöhnlich ist. Durch Zufall und ein „diffiziles Auswahlverfahren“ landet sie bei PricewaterhouseCoopers in Paris.
Obwohl sie kaum Französisch spricht, lässt sie sich nicht abschrecken. Man lernt schnell, wenn man muss. Nach einem halben Jahr Praktikum kehrt sie nach Österreich zurück und beginnt 1993 bei PwC in Wien. Sie bleibt 25 Jahre. In dieser Zeit wird sie Wirtschaftsprüferin, Prokuristin, Geschäftsführerin und Partnerin. Sie spezialisiert sich auf Versicherungen, ein Bereich, den ihre Kollegen meiden. „Meine Karriere entstand tatsächlich deshalb, weil ich Dinge tat, die andere nicht wollten“, sagt die gebürtige Steirerin. Sie hat den Mut, sich auf Unbekanntes einzulassen.
„Meine Karriere entstand tatsächlich deshalb, weil ich Dinge tat, die andere nicht wollten.“
Ihr damaliger Chef rät ihr, sich auf Versicherungen zu konzentrieren, obwohl KPMG in diesem Bereich führend ist. Ihr erster Gedanke: „Das ist das Letzte, was ich will! “ Heute lacht sie darüber. Statt den Vorschlag abzulehnen, probiert sie es aus. „Man kann ja immer noch sagen, es gefällt einem nicht“, erinnert sie sich.
Diese Offenheit führt zu einer überraschenden Entdeckung: Die Versicherungswelt ist spannend und bietet Raum für Kreativität. Hirner bleibt dabei und wird erfolgreich. Sie analysiert sämtliche bedeutenden Versicherungen Österreichs und entwickelt ein tiefes Branchenverständnis. Und sie baut ein wertvolles Netzwerk auf. Ihre Kollegen schätzen ihre strukturierte Herangehensweise und ihre Fähigkeit, Lösungen zu finden. „Man kann mir alles sagen, man ist immer safe“, beschreibt sie ihren Führungsstil. Einige ihrer heutigen Vorstandskollegen kennt sie aus der Zeit, als sie noch auf der anderen Seite des Tisches saß.
Kinder & Karriere
Liane Hirners Karriere folgt keinem geraden Weg. Als Mutter von zwei Söhnen arbeitet sie fünf Jahre lang in Teilzeit bei PwC. „Ich habe immer getan, was ich für richtig hielt“, sagt sie und bricht damit mit den klassischen Rollenbildern von Frauen. Diese Einstellung führt dazu, dass sie ihre Arbeitszeit schrittweise erhöht, ohne ihre Familie zu vernachlässigen. Ihr Mann ist eine wichtige Stütze, ebenso die Schwiegermutter.
Die täglichen Fahrten zur Arbeit – insgesamt zehn Stunden pro Woche – nutzt sie, um ihr Privatleben zu organisieren und sich auf Meetings vorzubereiten. „Im Auto war ich alleine“, erzählt sie. Diese Momente der Reflexion helfen ihr, strukturiert und vorbereitet zu bleiben. Ihr Engagement bringt sie zur Equity-Partnerin bei PwC, wo sie für Risikomanagement und Akquise verantwortlich ist. Auch in dieser Position bleibt sie sich treu. Sie setzt auf gute, langfristige Kundenbeziehungen und handelt oft gegen den kurzfristigen Fokus ihrer Kollegen. Diese Haltung bringt ihr Konflikte, aber auch Respekt und Anerkennung. Der Erfolg gibt ihr Recht.
Austrian Business Woman Verlegerin Barbara Mucha im Gespräch mit VIG-Vorständin Liane Hirner
Neue Aufgaben
Der Wechsel zur Vienna Insurance Group ist ein entscheidender Moment in Hirners Karriere. Nach 25 Jahren bei PwC nimmt sie 2018 das Angebot der VIG – es ist das dritte dieser Art – an. Ein Schritt, den sie nicht bereut. „Ich bin in einer Unternehmensgruppe, die es seit 200 Jahren gibt, die langfristig denkt und nachhaltig aufgestellt ist“, erklärt sie.
Bei der VIG findet sie ein Umfeld, das ihre Werte und Arbeitsweise widerspiegelt. Als Finanz- und Risiko-Vorständin verantwortet sie heute die größte Versicherungsgruppe in Zentral- und Osteuropa, die aufgrund ihrer dynamischen Entwicklung mittlerweile auch zu den Größten in Europa zählt. Ihre Erfahrung als Wirtschaftsprüferin hilft ihr, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und strategische Entscheidungen zu treffen. „Ich kann mir notfalls selber eine Meinung bilden, bin nicht angewiesen“, sagt sie. Diese Unabhängigkeit und das Knowhow sind in einer Branche, die von Regulatorien und Volatilität geprägt ist, ein entscheidender Vorteil.
„Für jeden Sieg braucht es zehn Niederlagen. Das ist normal. Wichtig ist nur, wieder aufzustehen.“
Kultur des Dialogs
Hirners Führungsstil ist geprägt von Menschlichkeit und Offenheit. Sie legt großen Wert darauf, den Menschen hinter der „Rolle“ zu sehen, die jeder von uns tagtäglich spielt. „Man muss den Menschen immer in den Mittelpunkt stellen“, betont sie. Diese Haltung zeigt sich auch in ihrer Art, mit Mitarbeitern umzugehen. Sie bietet Vier-Augen-Gespräche an. „Jeder kann zu mir kommen, wenn er mir etwas sagen will“, sagt sie. Diese Offenheit schafft Vertrauen und fördert eine Kultur des Dialogs.
Ihr Engagement für Diversität und Gleichberechtigung ist ein weiterer wichtiger Aspekt ihrer Führung. Sie setzt sich dafür ein, dass Frauen ihre Stärken ausleben können, ohne sich an männliche Vorbilder anpassen zu müssen. „Ich will eine Frau sein dürfen. Ich will aussehen wie eine Frau, mich benehmen wie eine Frau“, sagt sie. Diese Haltung hat sie auch in die Vorstandsetage der VIG gebracht, wo sie als derzeit einziges weibliches Mitglied im Team eine wichtige Rolle spielt. Von Floskeln wie „man muss die Frauen sichtbar machen“ hält sie nichts. „Die Frauen sind sichtbar. Wenn man sie finden will, dann findet man sie“, so Hirner. Die Frage sei eher, will man sie überhaupt finden? Das Umdenken müsse ganz oben beginnen, um langfristige Veränderungen herbeizuführen.
Innovation & Digitalisierung
Die Versicherungsbranche steht vor großen Herausforderungen – von regulatorischen Anforderungen bis hin zu technologischen Umwälzungen. Die Vorständin sieht diese neuen Aufgabenbereiche als Chance, die VIG weiterzuentwickeln. „Wir haben unsere konservative Veranlagung, unsere konservative Rückversicherung“, erklärt sie. Diese Stabilität ermöglicht es der VIG, auch in turbulenten Zeiten langfristig zu denken. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Innovation und Digitalisierung. Die VIG fördert Projekte, die durch Künstliche Intelligenz und neue Technologien die Effizienz und Kundenzufriedenheit weiter steigern. Diese Offenheit für Neues ist ein Schlüssel zum Erfolg in einer sich schnell verändernden Welt.
Niemals aufgeben
Liane Hirners Rat an alle Frauen, die Karriere machen wollen: „Sucht euch eine Aufgabe, die euch wirklich Freude bereitet.“ Sie hebt hervor, wie wichtig Engagement und Selbstvertrauen sind, und verschweigt nicht, dass sie auf ihrem Karriereweg oft härter arbeiten musste als viele Männer. Dafür zahlte sie einen Preis: Ein Burnout vor Jahren zeigte ihr die eigenen Grenzen. Sie zog daraus ihre Lehren, wuchs daran und ermutigt alle Leserinnen abschließend, sich von Rückschlägen niemals entmutigen zu lassen. „Für jeden Sieg braucht es zehn Niederlagen. Das ist normal. Wichtig ist nur, dass man wieder aufsteht.“
Zur Person
Mag. Liane Hirner studierte in Graz Betriebswirtschaftslehre. Vor ihrem Eintritt in die Vienna Insurance Group war sie seit 1993 bei PwC Österreich in der Wirtschaftsprüfung tätig, zuletzt als Partnerin im Bereich Versicherungen. Liane Hirner ist seit 1. Februar 2018 Vorstandsmitglied der VIG. Als Vorstandsmitglied und CFRO der VIG wurde sie 2024 für eine weitere vierjährige Funktionsperiode gewählt. Sie ist einziges österreichisches Mitglied der Insurance and Reinsurance Stakeholder Group (IRSG) der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA).
Foto: Ian Ehm