Die Generaldirektorin und Vorstandsvorsitzende der VIG im ABW-Interview zur aktuellen Lage der Versicherungsbranche.
Bitte geben Sie uns eine kurze Einschätzung der aktuellen Situation – wie hat sich COVID-19 auf das vorige Geschäftsjahr ausgewirkt, welche Entwicklungen sehen Sie?
Die VIG-Gruppe hat die Ausnahmesituation bisher gut gemeistert. Wir haben ein sehr solides Halbjahresergebnis 2020 erzielt und wir sehen uns operativ derzeit in der Lage, die Auswirkungen von COVID-19 für die Versicherungsgruppe zu managen. Weit schwieriger ist die Einschätzung der mittel- und langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf die Volkswirtschaften und damit verbunden die Reaktionen der Kapitalmärkte.
Wir wissen derzeit nicht, wie lange uns die Pandemie noch im Griff haben wird, welche Maßnahmen die unterschiedlichen Regierungen setzen. Wir müssen daher auch noch in den ersten Monaten des neuen Jahres mit weiteren negativen Einflüssen auf unsere Geschäftsentwicklung rechnen. Was sich aber generell gezeigt hat, dass sich unser Geschäftsmodell mit der sehr breiten Diversität über Länder, Marken, Vertriebswege und Produkte auch in schwierigen Phasen erfolgreich bewährt.
Das ermöglicht uns, weiterhin die sich bietenden Chancen optimal zu nutzen und unsere langfristigen Wachstumsambitionen fortsetzen zu können und diese Ambitionen haben wir auch weiterhin, unabhängig von Corona.
Welche Produkte sind in Corona-Zeiten besonders nachgefragt?
Gestiegen ist die Nachfrage nach Krankenversicherungen. Hier wurden wir oft gefragt, ob die Krankenversicherung bei einer COVID-19 Erkrankung leistet. Jetzt für unsere österreichischen Gesellschaften gesprochen: Ja, wenn ein Kunde an COVID-19 erkrankt, stehen ihm die gewohnten Leistungen aus der Sonderklasse- bzw. Privatarztleistungen zu, ebenso wie aus der Auslandsreise-Krankenversicherung, wenn beispielsweise ein Kunde während eines Auslandsaufenthaltes an COVID-19 erkrankt.
Durch die Corona-Krise und dem exorbitanten Anstieg an Home Office Tätigkeiten steigt auch die Zeit, die wir alle im Netz verbringen und damit auch die Cyberkriminalität. Dadurch wird das Bewusstsein steigen, sich gegen Cyberrisiken abzusichern und das ist auch gut so.
Denn Hackerangriffe und Cybervorfälle kosten den Unternehmen inzwischen dreimal so viel wie die Schäden durch Naturkatastrophen. Im Schnitt beträgt der Schaden durch Cyberangriffe rund 80.000 Euro. Obwohl die Dunkelziffer noch hoch ist, wird der Gesamtschaden in Österreich auf rund 1,6 Milliarden Euro geschätzt, weltweit sogar auf 400 Milliarden Euro. Im Visier der digitalen Angreifer sind vorwiegend mittelständische Betriebe – mit 70 Prozent sind diese das beliebteste Angriffsziel in Österreich.
In allen Branchen hat die Digitalisierung einen massiven Aufschwung erlebt, wie sieht es diesbezüglich bei der VIG aus?
Keine Frage, das gilt auch für die VIG. Es ist Tatsache, dass durch Corona online- und digitale Dienste eine neue Dynamik bekommen haben und das Thema Digitalisierung generell einen zusätzlichen Schwung erhält.
Es hat sich gerade jetzt in dieser Ausnahmesituation gezeigt, wie wichtig es war und ist, dass wir dem Thema Digitalisierung einen sehr hohen Stellenwert einräumen. Wir investieren im Rahmen unseres Managementprogramms Agenda 2020 alleine rund 200 Millionen Euro in die Digitalisierung und haben dazu derzeit mehr als 180 Projekte in der Gruppe laufen.
Uns war besonders wichtig, die beschlossenen Maßnahmen auch während der COVID-19 -Pandemie umzusetzen und das haben wir auch konsequent getan.Ich sehe die digitale Transformation als weiterhin vorrangig in der Branche. Sie stellt aus meiner Sicht neben dem Klimawandel den Trend mit den umfassendsten Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft dar.
Vor 30 Jahren expandierte die VIG nach CEE – eine Erfolgsgeschichte. Was war ausschlaggebend für diesen Schritt? Was ist in den kommenden Jahren geplant?
Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ und seine Folgebewegungen brachten eine allgemeine Aufbruchstimmung, die auch nach Österreich schwappte. Aus der geografischen Lage Österreichs als Schnittstelle zwischen West- und Osteuropa und der geschichtlich bedingten engen Verbindung mit den Ländern im Osten ergab sich die logische Folge, dass in erster Linie österreichische Unternehmen in den Osten gegangen sind.
Auch wir wollten früh in diese Märkte, weil wir dort Riesenchancen sahen. Wir wollten dabei kein zu großes Risiko eingehen, weil wir nicht wussten, wie es in dieser Region wirtschaftspolitisch und rechtlich weitergehen wird und ob sich die Demokratie in den ehemals kommunistischen Staaten tatsächlich durchsetzen würde. Am 30. Oktober 1990 beteiligten wir uns mit dem bescheidenen Betrag von umgerechnet einer Million Euro an der Gründung der Kooperativa in Bratislava.
Bis dahin war nur Österreich unser Heimmarkt. Damals erwirtschafteten wir mit drei Gesellschaften eine Milliarde Prämienvolumen.Zwischen dieser Pionierzeit und heute liegen nun genau 30 Jahre erfolgreicher Aufbauarbeit. Heute sind wir die führende Versicherungsgruppe in CEE mit über 22 Millionen Kunden, rund 50 Versicherungsgesellschaften und in 30 Ländern tätig.
Das Prämienvolumen haben wir in dieser Zeit auf über 10 Milliarden Euro mehr als verzehnfacht. Das Ziel für die weiteren Jahre lautet daher, die Nummer 1 Position in der CEE-Region zu festigen. Unser Fokus liegt in der Region CEE und dabei bleiben wir auch.
Wie schätzen Sie die Geschäftserwartungen in CEE ein – welche Auswirkungen zeigt Corona?
Wir sind vorsichtig optimistisch, denn die Prognosen sehen bereits im Jahr 2021 eine Erholung der wirtschaftlichen Aktivität zwischen Österreich und der CEE-Region. Vorsichtig optimistisch deshalb, weil es noch eine große Unsicherheit gibt, wie sich Faktoren, die die starken wirtschaftlichen Beziehungen Österreichs zu der CEE Region beeinflussen, entwickeln und sich entsprechend auf das Versicherungsverhalten der Bevölkerung und Unternehmen auswirken.
Vor Corona galt in der Regel: Das Wirtschaftswachstum ist in CEE im Schnitt doppelt so hoch als in Westeuropa. Wir gehen davon aus, dass wir sozusagen nach Corona wieder vom fortschreitenden Aufholprozess und großem Wachstumspotential profitieren werden. So hat sich die Wirtschaftsleistung gemessen am BIP seit dem jeweiligen Markteintritt der VIG-Gruppe in der Slowakei fast vervierfacht und in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik nahezu verdreifacht. Die Versicherungsdurchdringung in CEE beträgt im Schnitt nur ein Zehntel von Österreich.
Wie steht die VIG generell zur Start up-Szene – gibt es Investments? Wo sehen Sie den Nutzen?
Wir sehen in der Gründung eigener oder an Beteiligungen von Start-ups oder Start-up Plattformen die Chance rascher digitale Lösungen anzubieten und mit digitalen Innovationen agieren zu können. Start-ups müssen ausprobieren, Risiken eingehen, wenn sie neue Geschäftsmodelle umsetzen.
Große Unternehmen haben ein funktionierendes Geschäftsmodell und Abweichungen von diesem werden an den potentiellen Risiken, nicht an deren Chancen gemessen. Wir haben Beteiligungen an Start-ups wie zum Beispiel an der modernen Autoabo-Plattform ViveLaCar, da wir hier ein modern orientiertes Mobilitätskonzept mit Zukunftspotential sehen.
Wir sind auch Partner der weltweit größten Start-up Plattform Plug and Play aus dem Silicon Valley. 2019 haben wir unser erstes Unternehmens- Start-up viesure ins Leben gerufen mit dem Ziel, die Interaktion mit den Kunden auf rein digitaler Basis einfacher, schneller und transparenter zu machen. Unser jüngstes Start-up ist Beesafe in Polen, eine völlig digitale Kfz-Versicherungsplattform.
Was erwarten Sie sich vom neuen Projekt „Beesafe“? Wird es ein ähnliches Modell auch schon bald in Österreich geben?
Es ist ein Pilotprojekt für ein innovatives digitales Kfz-Versicherungsangebot mit vollständig digitalem Vertrieb und Schadenregulierung für den polnischen Markt. Das Herzstück ist eine IT-Plattform, die rasch und flexibel Adaptierungen entsprechend geänderter Kundenbedürfnisse und Marktverhältnisse zulässt.
Es ist unsere Antwort auf ein wachsendes, digital affines Kundensegment, das ich über die üblichen Kontaktwege zu Versicherungen schwer bis gar nicht mehr erreiche. Bei erfolgreichem Verlauf des Pilotprojekts ist eine Ausdehnung auf andere VIG-Länder geplant, wobei wir hier in erster Linie Länder der CEE Region im Auge haben. Österreich ist somit nicht in der ersten Erweiterungsphase angedacht.
Aktuelle Studien zeigen: In Österreichs gibt es zwar zahlreiche Frauen in Aufsichtsräten, aber nur wenige weibliche CEOs. Sie sind die einzige Frau an der Spitze eines ATX-Unternehmens. Warum, glauben Sie, gibt es dieses Ungleichgewicht?
Einen wichtigen Faktor sehe ich im Stellenwert von Diversität in einem Unternehmen. Es liegt grundsätzlich am Management beziehungsweise an den Eigentümern eines Unternehmens, ob sie auf Diversität Wert legen und darin Vorteile sehen.
Wenn ich Diversität als einen wichtigen Teil in der Unternehmensstrategie festlege, werden die Handlungen dieser Richtung folgen. Bei der Vienna Insurance Group haben wir Diversität als unseren Kernwert definiert. Wenn sich Leute bei uns bewerben, höre ich von weiblichen Interessentinnen oft, dass Frauen hier gute Chancen haben. Wenn es positive Vorbilder gibt, gibt es auch Nachahmer. Auf der anderen Seitetrauen sich Frauen immer noch zu wenig zu. Frauen müssen entschieden selbstbewusster auftreten. Bei Männern ist die Selbstüberzeugung weit verbreitet.
Was wünschen und planen Sie für dieses Jahr?
Der größte Wunsch entspricht wohl jenem, den zurzeit alle Menschen haben. Ein möglichst baldiges Ende der Pandemie, das uns endlich wieder physische Nähe ermöglicht und unser Leben planbarer macht. Gerade die Coronakrise mit den Beschränkungen hat uns doch allen gezeigt, wie wichtig der menschliche Kontakt ist und wie sehr er uns fehlt, wenn wir ihn nicht nutzen können.
Beruflich bezogen gilt es weiterhin die Auswirkungen von COVID-19 so gut zu managen wie bisher und uns auf unser Folgeprogramm der heuer auslaufenden Agenda 2020 zu konzentrieren. Wir arbeiten bereits intensiv an einem Strategie-Update, und da werden wir uns für den Zeitraum bis 2025 neue, herausfordernde Ziele setzen und dafür interessante Strategieansätze entwickeln.
Foto: Philipp Lipiarski