Bis 26. November 2023 präsentieren 89 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Hauptausstellung und 64 Länder ihre Vorstellungen und Projekte im „Labor der Zukunft“. Eine Biennale die ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit, der Dekolonialisierung und kritischen Selbstreflexion steht.
„Die Architektur war historisch gesehen eine einzige, exklusive Stimme, deren Reichweite und Macht große Teile der Menschheit ignoriert - finanziell, kreativ, konzeptionell -, als ob wir nur in einer Sprache zuhören und sprechen würden“, erklärt die diesjährige Kuratorin Lesley Lokko der Architekturbiennale in Venedig. Sie hat die weltgrößte Schau für Architektur unter das Motto „Labor der Zukunft“ gestellt und sieht sich als Agentin des Wandels.
Ihre Aussage spielt auch auf die früheren Biennalen an, wo es primär um das „Stelldichein“ der größten Architektinnen und Architekten ging, die ihre Prestigebauten und sich selbst huldigen ließen. Davon war schon in den letzten Ausstellungen nichts mehr zu sehen, zu gravierend spielen sich der Wandel unseres Klimas, unserer Ressourcen und der Gesellschaft in den Vordergrund. Aber noch nie zuvor ging es in einer Architekturbiennale so wenig um die eigentliche Architektur, sondern vielmehr um die kritische Selbstreflexion mit der Aufgabe der Biennale an sich, um Ideen und Lösungen für die Probleme knapper werdender Ressourcen und Bedrohungen von Lebensräumen und um jene Bevölkerungsgruppen, die nicht im Mittelpunkt der breiten Aufmerksamkeit unserer Gesellschaft stehen.
Schöner Wohnen mit Lehm
So hat Lesley Lokko zum ersten Mal das Rampenlicht der Hauptausstellung auf Afrika und die afrikanische Diaspora gerichtet. „Es gibt so viele Narrative über Afrika, über die die Afrikaner selbst jedoch nie die volle Kontrolle hatten. Ich wollte ihnen eine Stimme geben, weil ich mir bewusst bin, dass das Reden über die eigene Kultur in einem fremden Land auch einen Einfluss hat, der zurückwirkt.“ Diese Stimme hat zum Beispiel der Pritzkerpreisträger Francis Kéré aus Burkina Faso bekommen, der auf natürliche Materialien eines Landes fürs Bauen setzt, wie zum Beispiel Lehm. Als er nach seinem Studium im Ausland zurück nach Burkino Faso kam, erwartete man von ihm Schulen oder Krankenhäuser nach westlichem Stahl-Glas-Beton-Stil zu bauen.
Es bedurfte einiger Überredungskunst, die Menschen vom Sinn etwa des traditionellen Lehmbaus und einfacher Kühlsysteme zu überzeugen. Aber man darf auch Zukunftsträume haben und so zeigt der nigerianische Künstler Olalekan Jeyifous seine Vision von einem "All-Africa-Protoport", in dem die Nutzung von Wasserfahrzeugen, solarbetriebenen Flugzeugen und Schnellbahnen präsentiert werden. Das Personal führt in bunten und coolen Uniformen vor Augen, dass ohne die Natur gar nichts läuft. Sonnenkraft, Algen und Gezeitenkraftwerke, dienen also effektive Energie- und Biotechnologien, die selbst den Urbanismus umweltverträglich gestalten könnten.
Indigene und die Diaspora im Mittelpunkt
Ein Schwerpunkt, der schon bei der letzten Kunstbiennale im Vorjahr zu verzeichnen war, setzt sich auch in der Architekturausstellung fort. Indigene Gruppen und vertriebene Minderheiten, deren Lebensweisen, Erfahrungen und Probleme werden von mehreren Ländern und in der Hauptausstellung beleuchtet. Großbritannien setzt sich mit sozialen Praktiken zur Bindung von Gemeinschaften in der Diaspora und der Schaffung neuer Denkweisen hinsichtlich Architektur und Umwelt auseinander. Brasilien, das den diesjährigen Goldenen Löwen bekam, rückt die Philosophie und Vorstellungswelten indigener und schwarzer Bevölkerungsgruppen in Brasilien in den Vordergrund. Im Hauptpavillon erklären Indigene im Amazonas ihre Lebensweise im Einklang mit der Natur, Norwegen und Schweden präsentieren, wie schon bei der Kunstbiennale, die Lebensräume der Samen.
Das „Häusl“ als Nutzort
Nicht nur in der Lagunenstadt Venedig hat Wasser eine besondere Bedeutung. Es ist die weltweit lebenswichtigste Ressource und durch den Klimawandel zugleich größte Bedrohung. Kopenhagen ist eine jener Städte, die laut Prognosen durch den Anstieg des Meeresspiegels zu versinken droht. Dänemark rückt in seinem Pavillon deshalb nachhaltige Lösungen für Küstenregionen weltweit in den Mittelpunkt und reflektiert, wie sich die Menschheit an den steigenden Meeresspiegel und die immer häufiger auftretenden Sturmfluten anpassen kann.
Die Niederländer bohren nicht nur gleich Löcher in den Pavillon, um das Regenwasser zu sammeln, sie nutzen Wasser als Metapher unserer komplexen Finanz- und Regulierungssysteme und der Notwendigkeit über einen Systemwandel in eine gerechtere und ökologisch widerstandsfähigere Zukunft hinzuweisen. Das Königreich Bahrain will das hohe Kondensat, das durch intensive Klimatisierung entsteht, in landwirtschaftliche Regionen zur Bewässerung umleiten, um einen positiven Beitrag zur Gesamtökologie zu leisten. Auf die wertvolle Ressource Wasser reflektiert auch Finnland und propagiert die Toilette „Huussi“, wo Holzspäne statt Wasser verwendet wird und aus der „Hinterlassenschaft“ wertvoller Dünger für den Kräutergarten wird. Als das Wasserklosett erfunden wurde gab es eine Milliarde Menschen auf dieser Welt, jetzt sind es acht.
Wer bastelt mit?
Ressourcenschonung und Recyceln ist auch das große Thema im deutschen Pavillon. Der deutsche Beitrag zählt zu jenen, die sich besonders kritisch und gelungen mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. So wurde der Pavillon mit übriggebliebenem Material aus über 40 Länderpavillons der Kunstbiennale 2022 befüllt. Wer möchte, kann aus den Materialien etwa eine Clutch basteln, hobeln oder hämmern und sich in der Teeküche gemeinsam austauschen.
Während der Biennalezeit werden Universitätsstudenten und Handwerkslehrlinge mit den gelagerten Materialien in ganz Venedig soziale Infrastruktureinrichtungen reparieren und pflegen. Die Wiederverwertung umfasst auch den Menschen. In einem eigens gebauten Toilettenkomplex mit Urinal für beide Geschlechter wird Urin gesammelt und zu rapsgelben Dünger verdunstet. Der Pavillon wir zu einem lebendigen Ort der Reproduktion und betont, dass ökologische Nachhaltigkeit untrennbar mit der sozialen Frage verbunden ist, Wiederverwertung wird künftig zweifellos einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Oder man sucht neue Wege zur Herstellung von nachhaltigem Baumaterial wie beispielsweise Baustoffe aus Pilzkulturen, die der belgische Pavillon sehr eindrucksvoll präsentiert.
Veto gegen Österreichs Projekt „Beteiligung“
Eine hervorragende Idee des österreichischen Beitrags scheiterte an der Bürokratie der Stadtregierung und Leitung der Biennale. Das Architekturkollektiv AKT (bestehend aus 17 Architektinnen und Architekten) und der großartige Altmeister der Szene, Hermann Czech, wollten die kritische Selbstreflexion der Architekturbiennale wohl zu weit treiben. Seit vielen Jahrzehnten breitet sich die Biennale in der Stadt immer weiter aus und eignet sich Wohn- und Lebensräume der Venezianer an, die in den letzten Jahrzehnten von 170.000 auf mittlerweile rund 50.000 Bewohner geschrumpft sind.
Die Gelände der Biennale sind außerhalb der Bespielung für die Bevölkerung nicht zugänglich und bleiben ungenutzt. Österreich wollte den 1934 von Josef Hoffmann und Robert Kramreiter gebauten Pavillon in der Mitte teilen und je zur Hälfte den Besuchern der Biennale und der sonst ausgeschlossenen Bevölkerung des hinter dem Pavillon angrenzenden Stadtteils Sant’Elena frei zugänglich machen. Den Raum sollten die Bewohner für Diskussionen, Veranstaltungen und Spieleabende nutzen können.
Auch das Gebiet des österreichischen Pavillons war zuvor Lebensraum für die Venezianer. Die ursprüngliche Idee, den Zugang durch ein Loch in der Mauer zu ermöglichen wurde aus Denkmalschutzgründen untersagt. Die Alternativlösung eine Brücke über die Mauer zu bauen ebenso. Österreich kann sich nicht einfach Eigentum aneignen und das wohl ausschlaggebendste Argument war, dass man keinen Präzedenzfall schaffen will. So bleibt nur der Blick von der unfertigen Brücke hinüber auf Sant’Elena. Der Beitrag Österreichs bleibt dennoch einer der interessantesten und viel diskutiertesten dieser Architekturbiennale.
Die Mauer muss weg
Einen ähnlichen Gedanken hatten die Schweizer, die ihre Idee einfach umgesetzt haben. Den schweizerischen und den venezolanischen Pavillon trennt nur eine Ziegelmauer. Viele Menschen wussten gar nicht, dass die beiden Pavillons zusammengebaut sind. Die Pandemie und die geopolitischen Spannungen haben Grenzen und Nachbarschaft eine ganz neue Bedeutung gegeben. Die Schweizer stellen sich die Frage, ob sie die Neutralität behalten, wie weit sie sich nach Europa und ihren Nachbarn öffnen.
Die Architektur muss sich künftig auch mehr auf das Bestehende, als auf das Neue konzentrieren, so die Botschaft der Schweizer. Daher rissen sie die Mauern zum „Nachbarn Venezuela nieder, um die beiden Pavillons miteinander zu verbinden. Venezuela zeigt sich davon aber unbeeindruckt und zieht sein eigenes Ding durch, ohne auf die Botschaft der Nachbarn zu reagieren.
Wissen der Biennale aus dem Supermarkt
Die für Besucher wohl lebendigste Kritik an der Inszenierung der Architekturbiennale liefert Lettland im Arsenale. In einem Diskont-Supermarkt, der die Biennale repräsentiert, können die Besucher aus 506 Produkten wählen, zur Kassa gehen und symbolisch konsumieren. Da stehen zum Beispiel ein Joghurt „Integration - Madness with a method“ aus Österreich, Tomaten „Bogota – from chaos to mega city“ aus Kolumbien oder Sodawasser „In our home“ aus Albanien zur Verfügung.
Die Produkte symbolisieren Beiträge aller Länderpavillons der letzten zehn Architekturbiennalen. Lettland will damit kritisch hinterfragen, was mit all dem gewonnen Wissen nach den Biennalen passiert. Den Besuchern wird vermittelt, was es schon alles für Ideen mal gegeben hat. Die aus der Sicht der Besucher wichtigsten Produkte oder Ideen sollen gekauft und das Wissen auch konsumiert werden. Am Ende der Biennale soll mit den Kassenbons ausgewertet werden, welche Produkte am meisten gekauft wurden.
Lettland gehört somit wie Österreich, Deutschland, die Schweiz und die Niederlande zu den heurigen Kritikern, die die Architekturbiennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstand stellen. Einem Diskurs, von dem sich die Besucher noch bis 26. November selbst ein Bild machen können.
Infos unter: www.labiennale.org
Foto & Text: Mag. Woilfgang Haas