60ste Kunstbiennale in Venedig: Fremde überall

In einer Farbenpracht wie selten zuvor, zeigt sich die diesjährige Kunstbiennale in Venedig, die sich bis 24. November 2024 über die gesamte Lagunenstadt ausbreitet. 

Vom Rand in den Mittelpunkt gerückt

Ein wahrlich buntes Potpourri an 332 Künstlern bietet die Hauptausstellung der Biennale im Arsenale und im Hauptpavillon der Giardini. Das liegt zum einem am diesjährigen gebürtigen brasilianischen Kurator Adriano Pedrosa, der den Fokus auf südamerikanische, afrikanische und Künstler aus dem arabischen Raum legt. Farben spielen in diesen Kontinenten und Regionen eine große Rolle. Zum anderen stellt er die Biennale unter das Motto „Fremde überall“ und rückt vor allem indigene, queere und relativ unbekannte Künstler in den Mittelpunkt der weltgrößten Kunstschau in der Lagunenstadt.

Noch nie war so oft auf dem Schild zum Werk zu lesen, dass dieser Künstler das erste Mal auf der Biennale zu sehen ist und in einem anderen Land geboren wurde, als jenem, indem er seinen jetzigen Lebens- und Schaffensraum sieht. Fremde“, die aus welchen Gründen auch immer ihr Heimatland verlassen haben, um sich woanders zu etablieren, zu entfalten oder die auch im eigenen Land als Randgruppe wie „Fremde“ oder „Ausländer“ gesehen und behandelt werden.

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Sehr überzeugend dazu die Videoinstallation im Arsenale der in Marokko geborenen und in Wien lebenden Künstlerin Bouchra Khalili, die Flüchtlingen ihre Geschichten erzählen lässt und dabei ihre Routen auf Landkarten nachzeichnet. Tiefgehende und beeindruckende Darstellungen über Migration, eigene Identitäten und die Diaspora vermischen sich mit viel Ethno-Kitsch, weniger wäre hier besser gewesen. Nur ganz wenige Klassiker der Moderne sind zu finden, wie ein kleines Selbstbildnis von Frida Kahlo, fast versteckt unter dem Sammelsurium an Bildern an einer Wand im Hauptpavillon. Aber leicht zu finden, denn zur Bewachung des wertvollen Bildes ist immer eine Sicherheitsperson abkommandiert.     

Am Farbentrip

Das bunte Farbenspiel geht auch in den nationalen Pavillons weiter. Allen voran im amerikanischen mit dem Künstler Jeffrey Gibson, der von den Cherokees, einem nordamerikanischen Indianerstamm abstammt und ein farbenfrohes Folklorespiel zeigt, das sich auf die Geschichte der Amerikaner, der Ureinwohner und der Queers bezieht.

Auch der französische Pavillon mit dem aus Martinique stammenden Künstler Julien Creuzet versetzt die Besucher in eine bunte Poesie aus Formen, Klängen und Gerüchen, eine richtige Wohlfühloase. Gleich daneben der nächste schwarze Künstler im britischen Pavillon. John Akomfrah setzt sich in Videoproduktionen unter dem Titel „Listening all night to the rain“ mit Themen wie Postkolonialismus und Ökologie auseinander, wobei Wasser ein zentrales Motiv und verbindendes Element der sehr ästhetisch präsentierten Produktionen bildet. Schrill auch diesmal der Schweizer Pavillon, wo der schweizerisch-brasilianische Künstler Guerreiro do Divino Amor geschickt die Schweizer Seele und allerlei Klischees in einer kuppelgroßen Videosession aufs Korn nimmt.

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Die Geräusche des Krieges

Angesichts der multiplen Krisen, denen wir derzeit ausgesetzt sind, ist diese künstlerisch bunte Vielfalt eine willkommene Auseinandersetzung bei dieser Biennale. Aber es ist natürlich nicht alles durch die rosarote Brille zu betrachten. Auch die aktuellen Kriege werden thematisiert. So hat sich die israelische Künstlerin Ruth Patir dazu entschlossen, dass der israelische Pavillon so lange geschlossen bleibt, bis es zumindest eine Waffenruhe gibt und alle Geiseln freigelassen werden.

Unter die Haut geht der Beitrag Polens mit dem ukrainischen Künstlerkollektiv „Open Group“, das ein kollektives Portrait von Zeitzeugen des Krieges in der Ukraine zeigt. In „Repeat after Me“ ahmen Kriegsflüchtlinge die Geräusche von Schüssen, Raketen, Explosionen und Waffen nach. Es erinnert einprägsam daran, dass die Fähigkeit, die jeweiligen Geräusche rechtzeitig zu erkennen, vielen das Leben gerettet hat. Die Besucher sind aufgefordert diesen Soundtrack des Krieges zu wiederholen oder sich schutzsuchend in einen sicheren Raum zurückzuziehen, der einer Karaoke-Bar ähnelt. 

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Botschaft an Putin 

Auch die in Russland geborene Künstlerin des österreichischen Pavillons, Anna Jermolaewa setzt gemeinsam mit der ukrainischen Balletttänzerin und Choreografin Oksana Serheieva ein klares Zeichen gegen den Ukrainekrieg. In der Videoinstallation „Rehearsal for Swan Lake“ proben Tänzerinnen für den Regimewechsel in Russland.

Anna Jermolaewa, die politisch in der damaligen UDSSR verfolgt und 1998 nach Österreich geflüchtet ist, erinnert daran, dass immer, wenn es politische Unruhen gab oder ein bedeutender Parteifunktionär gestorben war, oft tagelang im Fernsehen Schwanensee von Tschaikowski in Dauerschleife gespielt wurde. Schwanensee wurde so zu einem Code für Machtwechsel. Die Installation ist somit ein klarer Aufruf an Putin, dieses russische Regime zu beenden. Jermolaewa setzt noch weitere Zeichen ihrer eigenen Fluchterfahrung. Großes Aufsehen erregten sechs ausgediente Telefonzellen aus Traiskirchen, die über den Canale Grande in die Giardini geschippert wurden.

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Aus diesen sechs Telefonkabinen wurden seinerzeit die meisten Auslandsgespräche in Österreich geführt. Die Kritzeleien im Inneren sind Zeitdokumente der Aussichtslosigkeit und Hilferufe der Bewohner des Flüchtlingslagers. Auch die Künstlerin hat aus einer dieser Zellen damals ihre Familie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie es in den Westen geschafft hat. In der Installation Penultimate stehen Blumen als Symbole für friedliche Revolutionen, wie rote Nelken für den Militärputsch 1974 in Portugal oder Rosen für die Rosenrevolution 2003 in Georgien. Ein Stuhl ist leer, dort würde sich die Künstlerin gerne eine Vase mit Blumen für das Ende des russischen Regimes wünschen.

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Momente des Erinnerns

Besonders gelungen ist heuer auch der deutsche Pavillon. Betreten kann man ihn nur vom Seiteneingang, der Haupteingang ist mit Erde aus Anatolien zugeschüttet. Ein Teil der Installation „Monument eines unbekannten Menschen“ des Theatermachers Ersan Mondtag. Er erinnert im inneren des Pavillons an seinen Großvater, der als einer von tausenden Gastarbeitern aus Anatolien nach Deutschland kam, im Eternitwerk arbeitete und an den Folgen des giftigen Asbeststaubes kurz vor Erreichung seiner Pension starb. Fast zynisch wirken die präsentierten Dankesurkunden des Unternehmens für 25 Jahre treue Arbeit an den Wänden des nachgestellten kargen Wohnraums.

Gleichzeitig zeigt im Pavillon die israelische Künstlerin Yael Bartana in einer mehrteiligen Videoinstallation die Flucht von Menschen aus einer zerstörten Welt in einem utopischen Raumschiff. Den Flug im Raumschiff verfolgt man gemütlich auf einem Kissen liegend an der Decke. Eine Erinnerung der besonderen Art ist im australischen Pavillon zu sehen, der heuer den goldenen Löwen erhalten hat. Der Künstler Archie Moore hat in zweimonatiger akribischer Arbeit den gesamten Stammbaum seiner Verwandtschaft, den Aborigines, einschließlich der gemeinsamen Vorfahren aller Menschen mit Kreide an schwarze Wände und die Decke gekritzelt, der die Besucher förmlich verschlingt. In der Mitte ein Wasserbecken mit Stapeln weißen Papier als Mahnmal mit kolonialen Gesetzen, die lange Zeit den Menschen aufgezwungen wurden. Tragödien, die von der Spiegelung des Stammbaums im umgebenen Wasser umspielt werden.

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Die Highlights der kollateralen Ausstellungen

Neben den offiziellen Biennale-Präsentationen machen wieder zahlreiche Zusatzausstellungen auf sich aufmerksam. Besonders interessant ist diesmal ein Besuch im Stadtteil Dorsoduro entlang der Fondamenta Zattere. Absolut fesselnd die raumfüllende Videoprojektion „The rooted nomad“ des 2011 verstorbenen indischen Künstlers M.F. Husain im Magazzini del Sale. Der rastlose Wandergeist von Husain, die Vielfalt seiner Erfahrungen und Reisen und die Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen, Mobilität und Migration bilden ein spektakuläres Gesamtkunstwerk.

Wenige Meter daneben zeigt der neue Shootingstar, die junge Französin Josėfa Ntjam ihre Videoinstallation „swell of spæc(i)es“. Der Film erzählt eine Art Schöpfungsgeschichte mit einer Reihe von artenübergreifenden Charakteren, die mithilfe von künstlicher Intelligenz und digitalen Werkzeugen synthetisiert wurden, eine geradezu psychedelische Reise.

Großartige Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Julie Mehretu, die in einen Dialog mit anderen zeitgenössischen Künstlern gesetzt werden, zeigt der Palazzo Grassi. Im Palazzo Grimani wird eine neue Gemäldeserie des Amerikaners Rick Lowe gezeigt. In diesen lebendigen Leinwänden, die mit Acrylfarbe und Collage erstellt wurden, treten geometrische Motive und Improvisation eindrucksvoll in einen Dialog. Absolut sehenswert auch die Malerei des gebürtigen Chinesen Zeng Fanzhi, die in der wunderbaren Scuola Grande della Misericordia gezeigt wird. Nicht zu vergessen die neuen Werke der Grand Dame der österreichischen Malerei, Martha Jungwirth, zu sehen im Palazzo Cini. 

Für die künstlerische Megaschau haben Besucher noch bis 24. November 2024 Zeit. Informationen über die Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten finden sie unter www.labiennale.org.


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